Die folgenden Texte über das Leben und Wirken von Agnes Reinhold sind Auszüge aus der Broschüre „Agnes Reinhold, eine vergessene Kämpferin der anarchistischen Bewegung“, veröffentlicht durch die Gustav Landauer Denkmalinitiative.

Über das Leben von Agnes Reinhold und ihrem Mann Hugo ist wenig bekannt. Agnes, mit Geburtsnamen Schlapsky, wurde am 30. Dezember 1859 in Kyritz geboren, ihr Mann Hugo am 1. April 1843 in Schrimm, dem heutigen Śrem in Woidwodschaft Großpolen.

Sie gehörten somit zu den tausenden Zuwanderern, die im 19. Jahrhundert aus den ländlichen Regionen in die wachsende Industriemetropole Berlin zogen. In den Akten finden sich keine Hinweise auf Kinder des Paares. Im Jahre 1890 wohnten sie in der Seydelstraße 9 in der nördlichen Luisenstadt nahe dem Spittelmarkt. Hugo war ein Schneidermeister. In der Textilindustrie mit hohem Anteil an Heimarbeit waren Niedriglöhne und die überwiegende Beschäftigung ungelernter Frauen üblich.

Agnes Reinhold war eine der wenigen Frauen ihrer Zeit, die die Organisation einer politischen Gruppe übernahmen. Mit viel Geschick gelang ihr die Verbreitung anarchistischer Zeitungen und Flugblätter in Berlin. Sie leistete damit einen frühen Beitrag dazu, die entwürdigenden Lebensumstände der Arbeiterinnen und Arbeiter anzuprangern und zur politischen Aktion aufzurufen. Ihr unerschrockenes Eintreten gegen die menschenunwürdigen Zustände im Frauenzuchthaus Delitzsch weist sie als bislang vergessene frühe Kämpferin für Frauenrechte aus. (…)

Hintergründe

Entnommen aus dem Text „Hintergrund: Kampf um Meinungs- und Pressefreiheit“ aus der oben benannten Broschüre.

Seit 1878 verboten die Sozialistengesetze auf Betreiben des Reichskanzlers Otto von Bismarck sämtliche Gliederungen und Zeitungen der Sozialdemokraten, lediglich die Reichstagsabgeordneten behielten ihre Mandate. Als Vorwand dienten Bismarck zwei fehlgeschlagene Attentate auf Kaiser Wilhelm I, die aber nicht von Sozialdemokraten ausgeführt wurden. Eine schwere Verfolgung brach nun über die junge Arbeiterbewegung herein. Wer als Mitglied bekannt war, wurde verhaftet oder aus seinem Wohnort ausgewiesen und verlor seine Arbeit. Die existenzielle Not, in die die betroffenen Familien gerieten, wurde durch Geldsammlungen nur wenig gelindert. (…)

Fabrik oder Zuchthaus, die Wahl der Qual für aktive Arbeiter*innen.

Die erschreckenden Lebensbedingungen der Arbeiter, die Selbstherrlichkeit der von keinen Gremien kontrollierten SPD-Reichstagsabgeordneten sowie die brutalen Zwangsmaßnahmen der Polizei bereiteten den Boden für die Hinwendung engagierter Sozialdemokraten zur jungen anarchistischen Bewegung. (…)

(…) Auch das Ehepaar Reinhold scheint sich in dieser Zeit den Anarchisten angeschlossen zu haben. Im späteren Prozess sagte Polizeikommisar Weinert aus, 1888 hätte Hugo Reinhold in einem Lokal in der Wallstraße eine anarchistische Rede gehalten, die zu seiner Verhaftung führte. (…)

Wenig später soll auch seine Frau eine Rede gehalten haben, „die derart radikal war, dass sich alles wunderte.“ (1). Vermutlich fand spätestens zu dieser Zeit die Gründung der Gruppe „Autonomie“ statt, die von Agnes Reinhold geleitet wurde und bis Dezember 1889 der Polizei unbekannt blieb. (…)

Die Gruppe „Autonomie“

Entnommen aus dem Text „Die Gruppe „Autonomie““ aus der der oben benannten Broschüre.

Aufgrund der erhaltenen Beobachtungsberichte lassen sich die Aktivitäten der Gruppe ab Dezember 1889 gut rekonstruktuieren. (2) Direkt nach Weihnachten sollen rund 20.000 Flugblätter in Berlin ausgegeben worden sein, die von Agnes Reinhold und dem bei seinem Meister lebenden Schneidergesellen Weber an die Verteiler gelangen. Die Polizei konnte keine öffentliche Verteilung feststellen, so dass sie davon ausging, dass die Flugblätter nur von Hand zu Hand gingen. Möglicherweise wurde ein Teil der Flugblätter auch an andere Gruppen weitergegeben. Agnes Reinhold baute nicht nur ein weitgespanntes Kontaktnetz zu Gruppen in Paris, Wien, Stuttgart, Breslau, Düsseldorf, Aachen und Meerane auf, ihr gelang es auch, den Schmuggel von Druckschriften über die belgische und die schweizer Grenzen wiederzubeleben. Auch Berliner Anarchisten reisten nun zu Grenzorten Richtung Belgien und beteiligten sich an der gefahrvollen Tätigkeit. Mit der Redaktion der „Autonomie“ in London bestand ein reger Briefwechsel. Die Gruppe organisierte Geldsammlungen zur Begleichung der Druckkosten und zur Unterstützung der Familien verhafteter Genossen. So erhielt die Familie des Maler Otto Grau eine Unterstützung von 8 Mark wöchentlich. Die Schriften wurden in der Wohnung der Reinholds und auf einem Grundstück in Reinickendorf gelagert.

Agnes Reinhold hielt alle zwei Wochen geheime Treffen ab, die als Familienfeiern getarnt waren und denen bis zu 16 Personen teilnahmen. Abwechselnd traf man sich in ihrer Wohnung in der Seydelstraße 9 oder im Wedding bei dem Schlosser Johann Gentz in der Ruheplatzstraße 22. (…)

(…) Die politischen Diskussionen führten nicht immer zu einem einhelligen Ergebnis. So war man über die Teilnahme an den Reichstagswahlen geteilter Meinung. (…)

(…) In den Gruppentreffen wurden auch die Programme der antretenden Parteien eingehend besprochen. Von Mitgliedern wurden auch Berichte aus Berlin für die „Autonomie“ geschrieben, die vor Veröffentlichung in der Gruppe diskutiert wurden. (…)


Agnes Reinhold, eine vergessene Kämpferin der anarchistischen Bewegung
Gustav Landauer Denkmalinitiative (Berlin), Broschüre, 44 Seiten
Die Broschüre erhaltet ihr vor Ort im Kiezhaus oder über das Kontaktformular der Gustav Landauer Denkmalinitiative.